Nach der im Eingangskapitel A 1. erwähnten Erkenntnis von Karl Marx wurde der zulässige Rahmen des Denkens zu allen Zeiten von einer Philosophie vorgegeben, und zwar derjenigen, welche von der herrschenden Schicht genehmigt und verkündet wurde. Moderne, freiheitliche Philosophie muss diese unrühmliche Vergangenheit hinter sich lassen und aufhören, die Ideologie einer nicht demokratisch legitimierten Oberschicht zu verkünden. Das aktuelle – wegen seiner bequemen Passform kaum gespürte -ideologische Korsett muss dazu allerdings zunächst ins Bewusstsein der Menschen gelangen, um in seiner Überwindung dem Prinzip der Gedankenfreiheit in aller Konsequenz den ihm gebührenden Raum zu öffnen.
Indem der Anspruch auf Freiheit des Gedankens, unter alleiniger Aussparung physischer, struktureller und ideologischer Gewalt allumfassend ist, besetzen Gewaltfreiheit und korrekte Gedankenfreiheit einen identischen Raum – exakt den, der für die volle Entfaltung der menschlichen Vernunft unverzichtbar ist.
Das rationale Prinzip, vor einer Handlung den Verstand einzuschalten, funktioniert in technischen Fragen bekanntlich bestens und erspart uns viele zeitaufwendige und frustrierende Versuch- und Irrtum-Anläufe. Doch im sozialen und politischen Bereich funktioniert es nur mit sehr großer Einschränkung, denn bei sämtlichen Interaktionen zwischen Menschen greift das Über-Ich als ethische oder vermeintlich ethische Kontrollinstanz in die Denkvorgänge ein (Kapitel A 14. „Denkblockaden“).
Wurde dieses mit einer Pseudo-Ethik, also einer irrationalen und ideologisch verblendeten Ansammlung vermeintlicher Werte programmiert, sind Konflikte mit der (ignorierten) Wirklichkeit und mit anderen Menschen unausweichlich. Ein solcher Fall läge beispielsweise vor, wenn eine falsche Ethik verkündet wurde, dass inhaftierten Mördern einschränkungslos - auch ohne erkennbare Resozialisierung Fortschritte und ohne psychologisches Gutachten - regelmäßiger Freigang zustände. Die Zurücksetzung des Rechts der Mitmenschen auf Schutz vor eindeutiger Gefährdung gegenüber dem Recht eines Täters auf Bewährungschancen entspräche einer falschen Priorisierung von Prinzipien. - Für rationale Ethik hat das menschliche Leben und seine Erhaltung stets Vorrang.
Im Kontext der großen Politik geht es im gesellschaftlichen Maßstab um Gewalt oder Fairness, Knechtung oder Freiheit, Verdummung oder Aufklärung, Willkür oder Gerechtigkeit, Missgunst oder Harmonie, Zerstörung oder Aufbau, Desintegration oder Integration, Rückschritt oder Fortschritt, Verantwortungslosigkeit oder Verantwortlichkeit, Krieg oder Frieden. Eine Philosophie, welche die Gesetze der Realität beiseite schiebt, um Vorwände für ungerechtfertigte Macht - also Macht unter Umgehung von Qualifikation - zu liefern, schadet jedoch letztlich der gesamten Gesellschaft, so dass diese sich im historischen Wettbewerb mit funktionierenden Leistungsgesellschaften nicht dauerhaft behaupten kann.
Konnten sich die Könige von Gottes Gnaden, die Fürsten und anderen Adeligen bei der moralischen Absicherung ihrer Macht noch auf die Kollaboration der Kirche verlassen, mussten sich die Kapitalisten als neue Herrenklasse nach einer weltlichen Philosophie umsehen – und die fanden sie in Perfektion bei Immanuel Kant (1724-1804). Dass ausgerechnet Kant von den Kapitalisten und folglich vom politischen Establishment als „Star-Philosoph“ und Maß aller Moral bis heute hochgehalten wird, ist ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Einen Teil der Erklärung liefert jedoch bereits die Verpackung, in welcher der Philosoph propagiert wird, nämlich als herausragender Vertreter der Aufklärung.
Die Aufklärung, also die freiheitliche Bewegung des 17. und vor allem 18. Jahrhunderts, hatte nach der Lösung Europas aus der geistigen Bevormundung der feudalen Adelsherrschaft des Mittelalters die Kraft des Verstandes sowie die Freiheit der eigenen Meinungsbildung verkündet. Tatsächliche Träger dieser Bewegung waren z. B. J. Gottlieb Fichte, G. Wilhelm Leibniz, Jean-Jacques Rousseau und Francis Bacon. Aber auch die Gründungsväter der USA, allen voran Thomas Jefferson und George Washington, kann man zu ihnen rechnen. Immanuel Kant dagegen, der gegen Ende dieser Epoche auftrat und sich gleichfalls den äußeren Anschein eines Philosophen der Aufklärung gab, war in Wahrheit deren Totengräber.
Als einen rückwärts gerichteten, zum Leidwesen der Menschheit allerdings gut getarnten Feind der Aufklärung kennzeichnet ihn namentlich sein Hauptwerk „Die Kritik der reinen Vernunft“, dessen Titel eigentlich schon Warnung sein sollte. Der Gebrauch der Vernunft ist stets einem (emotionalen) Motiv unterstellt, also im eigentlichen Sinne nie „reine Vernunft“ (siehe Kapitel A 14. „Denkblockaden“, erster Absatz). Es gibt allerdings ein einziges Motiv, das die Vernunft nicht beeinträchtigt, nicht korrumpiert, nicht verfälscht und dadurch von allen subjektiven Einflüssen befreit – das Motiv des reinen Erkenntnisstrebens. „Reine Vernunft“ kann also im korrekten Sprachgebrauch nie etwas anderes bedeuten als Einsatz des Verstandes aus purem Erkenntnisstreben. – Wer aber Verstandes Einsatz für das Streben nach Erkenntnis kritisiert, stellt sich damit 1. dem Geist der Aufklärung diametral entgegen, 2. In Opposition zur menschlichen Existenz als intelligentes Wesen und 3. in Widerspruch zu sich selbst, denn man kann – logischer Weise - nicht mit Hilfe logischer Argumente die Gültigkeit von Logik widerlegen.
Kant begnügte sich jedoch nicht damit, das Streben nach Erkenntnis zu verachten, er würdigte auch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse selbst als bedeutungslos herab, wie Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) in seinem Werk „Kritik der Kantischen Philosophie“ herausstellte:
„Kant, wie schon gesagt, sonderte die unleugbare große ethische Bedeutsamkeit der Handlungen ganz ab von der Erscheinung und deren Gesetzen, und zeigte jene (die ethische Bedeutsamkeit der Handlungen, Anmerkung) als unmittelbar das Ding ansich, das innerste Wesen der Welt betreffend, wogegen diese, d. h. Zeit und Raum und alles, was sie erfüllt und sich in ihnen nach dem Kausalgesetz ordnet, als bestand- und wesenloser Traum anzusehen sind”.
Schopenhauer entlarvte auch die Position Kants, das „eigentliche Wesen“ der Dinge, das „Ding an-sich“ würde sich grundsätzlich und definitiv außerhalb der Erfahrbarkeit der über die Sinne und den Verstand zugänglichen Welt befinden, als bloße, unbewiesene Behauptung:
”Dazu hätte man (also Kant, Anmerkung) aber vorher beweisen müssen, dass der Stoff zur Lösung des Rätsels der Welt schlechterdings nicht in ihr selbst enthalten sein kann, sondern nur außerhalb der Welt zu suchen ist, in etwas, dahin man nur am Leitfaden jener uns a priori bewußten Formen gelangen kann. Solange aber dies nicht bewiesen ist, haben wir keinen Grund, uns, bei der wichtigsten und schwierigsten aller Aufgaben, die inhaltsreichsten aller Erkenntnisquellen, innere und äußere Erfahrung, zu verstopfen, um allein mit inhaltsleeren Formen zu operieren. Ich sage daher, dass die Lösung des Rätsels der Welt aus dem Verständnis der Welt selbst hervorgehen muss, dass also die Aufgabe der Metaphysik nicht ist, die Erfahrung, in der die Welt dasteht, zu überfliegen, sondern sie von Grund auf zu verstehen, indem Erfahrung, äussere und innere, allerdings die Hauptquelle aller Erkenntnis ist,…“. (Heraushebungen nachträglich gesetzt) / Arthur Schopenhauer, Kritik der Kantischen Philosophie
Ganz entgegen seinen sonstigen (man darf vermuten ängstlichen) Beteuerungen, mit seiner eigenen Philosophie auf den „überragenden Erkenntnissen“ Kants aufzubauen, sägt Schopenhauer mit dieser Aussage allerdings den ganzen morschen Stamm durch, über dem sich das wortreiche Kronendach der kantschen Philosophie erhebt – und bekennt sich zur realen Erfahrung der Welt (mittels der Sinne und des Verstandes) als „Hauptquelle aller Erkenntnis“.
Die kritische Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants ist mitnichten ein belangloser scholastischer Streit, vielmehr geht es um nicht mehr und nicht weniger als um das wahre Fundament der Zivilisation,nämlich die freie menschliche Vernunft. Die Wiederentdeckung und beherzte Verteidigung dieses Fundaments gegen die unablässige Erosion durch das Irrationale und Willkürliche ist die im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Ebene, auf welcher sich nun der zukünftige Weg der Menschheit entscheidet. Entweder wird dieser auch weiterhin von immer aufs Neue anwachsenden Widersprüchen Gekennzeichnet sein, die sich in einem ewigen Zyklus von Gewalt, Ausplünderung und Unterdrückung - vergeblich - auszugleichen suchen - oder rationales Denken, klare Prinzipien, konsistente Anwendung derselben und also Fairness und Freiheit können sich durchsetzen und den destruktiven Kräften dauerhaft Einhalt gebieten.
Die negative Haltung Kants gegenüber dem Gebrauch des Verstandes muss dazu noch etwas genauer beleuchtet werden, um die zerstörerische Wirkung seiner Philosophie in der Hand der Kapitalisten erkennbar zu machen. Das Zweifeln an den Möglichkeiten des menschlichen Verstandes geht bei Kant so weit, dass er darüber einem inneren Gefühl, konkret dem Pflichtgefühl, den Vorrang einräumt. Diesem Pflichtgefühl und seiner Befolgung wird die Rolle als letztliche Entscheidungsinstanz für die korrekten Handlungen eines Menschen zugewiesen – und damit dem eigenen kritischen Urteilsvermögen entzogen:
„Was Pflicht sei, bietet sich jedermann von selbst dar; was aber wahren dauerhaften Vorteil bringe, ist allemal, wenn dieser auf das ganze Dasein erstreckt werden soll, in undurchdringliches Dunkel eingehüllt, und erfordert viel Klugheit, um die praktische darauf abgestimmte Regel durch geschickte Ausnahmen auch nur auf erträgliche Art den Zwecken des Lebens anzupassen“. / Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788. Erster Teil. Elementarlehre der reinen praktischn Vernunft
“Wahre dauerhafte Vorteile” - also Nachhaltigkeit - anzustreben, wird von Kant in Anbetracht des „undurchdringlichen Dunkels“ (der Folgen und Folgen der Folgen des Handelns) im Verlaufe eines „ganzen“ (menschlichen) „Daseins“ als aussichtslos angesehen – zur Orientierung bleibt damit allein das, „was Pflicht sei“, denn sie „bietet sich jedermann von selbst dar“.
Ayn Rand kommentierte diesen kantischen Ansatz in Ihrem Werk „Philosophy: Who needs it“ folgendermaßen: „The notion of „duty“ is intrinsically anti-causal. …; in its effects, it defies the principle of final causation – since it must be performed regardless of consequences”. – Die Vorstellung von “Pflicht” ist ihrem Wesen nach gegen das Kausalprinzip, …; in seinen Auswirkungen zerstört es das Prinzip der finalen Ursächlichkeit – da sie ungeachtet der Folgen ausgeübt werden muss. Ayn Rand, Philosophy: Who needs It, Kapitel Causality versus Duty, New York 1984, S. 135
Ein derartiges, allein an der Pflichterfüllung orientiertes Handeln zerstört, so folgert die Philosophin sehr richtig, das Verantwortungsgefühl. Indem die Folgen einer Handlung auf diese Weise gänzlich aus dem Fokus geraten, wird die Möglichkeit bereits im Ansatz verbaut, dass sich Verantwortungsgefühl zu einer höher integrierten Form, nämlich zum Verantwortungsbewusstsein, weiterentwickelt. – Während man dem Verantwortungsgefühl schon durch sehr einfachen Verstandesgebrauch gerecht werden kann, z.B., indem man einem Kind für die Schule regelmäßig etwas zum Essen mitgibt, bedeutet Verantwortungsbewusstsein, die Handlung vor der Ausführung auch auf weitreichende Folgen zu überdenken. Das kann im vorliegenden Beispiel bedeuten, den bequemen Griff zu Schokoriegeln durch eine Auswahl gesünderer Lebensmittel zu ersetzen und dem weniger begeisterten Kind auch zu erklären, inwiefern das sinnvoller ist.
Was Kant dagegen proklamiert, ist eine Kapitulation des Verstandes in Hinblick auf langfristige Folgen des Handelns, da es bereits (zu!) „viel Klugheit“ erfordern würde, die vielfältigen Einflussgrößen in ihrer Regelhaftigkeit zu erfassen und sie „auch nur auf erträgliche Art den Zwecken des Lebens anzupassen“.
Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 war zum Glück nicht von Immanuel Kant, sondern von tatsächlichen Vertretern der Aufklärung verfasst worden, allen voran Thomas Jefferson (1743-1826). In dieser Erklärung wird das Grundrecht auf „pursuit of happyness“, also auf das Recht, sein eigenes Glück selbst in die Hand zu nehmen, verkündet. Kant hätte an dieser Stelle nichts als seine rückwärts gerichtete, freiheitliche Weltsicht zu bieten gehabt, namentlich die mittelalterliche Pseudo-Tugend der bedingungslosen Pflichterfüllung. Darüber hinaus erfordert moralisch korrektes Verhalten nach Kant noch die Erfüllung einer Zusatzbedingung – es muss selbstloses Handeln vorliegen. Ein moralisch integrer Mensch ist danach nur jemand, der, einem imaginären Pflichterfühl folgend, zu Gunsten anderer handelt. Zwar darf man auch, wie es schon das kurzfristige eigene Überleben erfordert, auch für sich selbst etwas tun, aber gerade das besitzt für Kant keinerlei moralischen Wert. Zu Ende betrachtet ist das ein Selbstmordkonzept auf Raten, denn alle profitieren, nur die vermeintlich moralisch korrekten Anhänger dieser Antiphilosophie nicht. (siehe Kapitel A 14. „Denkblockaden“, erster Absatz).
Was sich bei näherem Hinsehen als offenkundige Mängel der Philosophie Kants herausstellt, hat diesem allerdings die Unterstützung der inoffiziell Mächtigen eingetragen - mit bis heute ungebrochener Publicity. Bei dem allgemein verbreiteten untertänigen „Agentic State“ haben nur wenige Philosophen die Zivilcourage aufgebracht, diesen ihren groß aufgebauten Kollegen zu kritisieren, unter diesen Arthur Schopenhauer (1788 – 1860):
„Dennoch ist Kants Vortrag oft undeutlich, unbestimmt, ungenügend und bisweilen dunkel…: … wer sich selber bis auf den Grund klar ist und ganz deutlich weiß, was er denkt und will, der wird nie undeutlich schreiben, wird nie schwankende, unbestimmte Begriffe aufstellen… Ein solcher wird sich überhaupt nicht unablässig wiederholen und dabei doch, in jeder neuen Darstellung des hundertmal dagewesenen Gedankens, ihm wieder gerade dieselben dunklen Stellen lassen.“/ Arthur Schopenhauer, Kritik der Kantischen Philosophie
Ayn Rand (1905-1982) war dank vertiefter Kenntnisse psychologischer Mechanismen in der Lage, das vermeintlich streng logische Vorgehen Kants als Rationalisieren (nach Anna Freud) zu diagnostizieren. “If, in the course of philosophical detection, you find yourself, at times, stopped by the indignantly bewildered question: How could anyone arrive at such nonsense?" – "You will begin to understand it when you discover that evil philosophies are systems of rationalization.“ – Wenn du im Verlaufe einer philosophischen Untersuchung gelegentlich durch die peinlich verwirrte Frage unterbrochen wirst, „wie konnte jemand auf solch einen Unsinn kommen?“ – wirst du (es) anfangen zu verstehen, wenn du entdeckst, dass destruktive Philosophien Systeme/ Produkte der Rationalisierung sind. Ayn Rand, Philosophy: Who Needs It, New York 1982, S. 25
Rationalisierung gehört zu den von Ana Freud entdeckten psychologischen Abwehrmechanismen. Sie besteht darin, unbequeme Wahrheiten mittels Scheinlogik so zurechtzubiegen, dass die Schlussfolgerungen angenehm ausfallen. Beispielsweise kann sich jemand durch allerlei Ausreden (auch vor sich selbst) um eine lästige oder kostspielige Verantwortung drücken. Kant wollte zu der Schlussfolgerung gelangen, dass das Pflichtgefühl die Priorität vor rationaler Beurteilung von Handlungsfolgen haben müsste. Da jedoch keine Logik die Zweitrangigkeit von Logik gegenüber irgendeinem Gefühl als „wahre“ Erkenntnisquelle hergeben kann, entpuppt sich das gesamte auf dieses gewünschte Ergebnis abzielende Gedankengebäude als Produkt der Rationalisierung.
Aufgrund der zu Kants Zeit noch unterentwickelten Kenntnisse der psychologischen Mechanismen (die erst durch Sigmund und Ana Freud auf ein naturwissenschaftliches Niveau gehoben worden) war es ihm nicht möglich, das Pflichtgefühl als das einzuordnen, was es tatsächlich ist, nämlich ein einprogrammierter kategorischer Imperativ, ein Produkt des Über-Ich, welches seinerseits einer individuellen, vom - zufälligen - elterlichen und gesellschaftlichen Umfeld geleisteten Programmierung unterliegt und von daher prinzipiell keine Quelle von objektiver Wahrheit oder von absoluter Moral sein kann.
Wer im Über-Ich einseitig den Verteidiger hoher Werte und Tugenden zu erkennen glaubt, sollte im zweiten Blick erkennen, dass es ebenso als Sklaventreiber und Unterdrücker missbraucht werden kann, da, ausser im eigenen „Autonomous State“, stets andere Menschen über seine Programmierung gebieten, nämlich die Eltern, Lehrer, Altersgenossen und Freunde. Besonders bedenklich ist, dass sich zu allen Zeiten die jeweilige Herrschende Klasse mit Nachdruck an dieser Programmierung beteiligt hat - zu früheren Zeiten der Adel, heute die politischen Vertreter der Politik und der Medien unter der Aufsicht des Großkapitals.
Hätte Immanuel Kant Gelegenheit gehabt, Karl Marx, Sigmund Freud und Ayn Rand zu lesen, wäre ihm klar geworden, dass Gefühle wie auch selbst das Pflichtgefühl, in unreflektierter Form, also ohne Prozessierung durch den Verstand, nicht zur entscheidenden moralischen Instanz erhoben werden können. Gerade umgekehrt muss sich jeder moralische Wertekatalog - wie auch sonst jedes Menschenwerk - einer Überprüfbarkeit durch die kritische Ratio stellen und unterstellen.
In dieser freiheitlich-rationalen Grundhaltung stimmten Ayn Rand und Karl Marx vollständig überein. „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. "Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ Karl Marx, 2. These über Feuerbach, MEW 3:5
Aus diesen Überlegungen leiten sich zwei mildernde Umstände ab, welche (zusätzlich zu unbedeutenden) Immanuel Kant von der Verantwortung für den Schaden freisprechen, den seine Lehren an der freiheitlichen Zivilisation angerichtet haben und täglich weiter anrichten.
Der erste ergibt sich aus der im Einleitungskapitel A 1. zitierten marxschen Erkenntnis, dass die weltanschauliche Orientierung einer jeden Zeitepoche und Gesellschaft von der herrschenden Klasse bzw. Gruppierung, verbindlich vorgegeben wird - und folglich alleine von dieser zu verantworten ist. Diese Verantwortlichkeit gilt umso mehr, als solche Aussagen Kants, die den Mächtigen nicht ins Konzept passten und passen, von diesen schlicht unterschlagen und nicht in die offizielle, „politisch korrekte“ Weltanschauung aufgenommen werden. Das gilt u.a. für seine treffenden Beobachtungen zur potenziell gewaltigen Dimension des Undanks. „Undankbarkeit gegen seinen Wohltäter, welche, wenn sie gar so weit geht, seinen Wohltäter zu hassen, qualifizierte Undankbarkeit, sonst aber bloss Unkenntlichkeit heisst, ist ein zwar im öffentlichen Urteile höchst verabscheutes Laster, gleichwohl ist der Mensch desselben wegen so berüchtigt, dass man es nicht für unwahrscheinlich hält, man könne sich durch er zeigte Wohltaten wohl gar einen Feind machen.“ / Immanuel Kant
Der zweite mildernde Umstand ist darin zu sehen, dass zu Kants Zeit (1724-1804) nur Vorstufen wissenschaftlicher Erkenntnisse der Psychologie vorlagen. Erst dem Neurologen Sigmund Freud (1856-1939), dem Begründer der Psychoanalyse, gelang der exakte Zugriff auf die verschiedenen Ebenen der Antriebe, welche menschlichem Verhalten zugrunde liegen.
Dieser Kant zuzusprechende mildernde Umstand noch unzulänglicher Kenntnisse der Psychologie hat allerdings für heutige Vertreter der Philosophie, die seine Lehre weiter unkritisch verbreiten, längst keinen Bestand mehr. Nachdem sich die Widersprüche des Kapitalismus nicht zuletzt hinter dem Schutzschild der kantischen Philosophie gewaltig akkumulieren konnten, steht ein längst überholtes Dogma Kants wie ein tückischer Felsen vor der Küste einer besseren Welt – die Abschottung der Philosophie gegen Erkenntnisse der Psychologie. Diese hatte bereits Arthur Schopenhauer beobachtet:
“Die spekulative Theologie und die mit ihr zusammenhängende rationale Psychologie" empfingen von ihm (Kant, Anmerk.) den Todesstreich. Seitdem sind sie aus der deutschen Philosophie verschwunden, …” / Arthur Schopenhauer
Sollte die aktuelle philosophische Wissenschaft die überfällige Wiederintegration psychologischer Betrachtungsweisen nicht selbst zu leisten willens oder im Stande sein, bleibt der Part automatisch der Soziologie und der Psychologie überlassen. Sigmund Freud hatte bereits Schritte in diese Richtung unternommen, indem er philosophisch-weltanschauliche und soziologische Betrachtungen auf der Basis psychologischer Erkenntnisse niederschrieb. – Diese sind bereits in Form von Zitatensammlungen lesenswert.