Während sich Chinas Aufstieg seit 1979/80 auf die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien gründet, kam es damit unvermeidbar auch zum Zutritt kapitalischer Kräfte. Doch vermochten Staat und Parteiführung deren Einfluss im Bereich der Industrieproduktion in Grenzen zu halten und auch die Finanzwirtschaft befindet sich unter wachsamer staatlicher Aufsicht, was die Krisenanfälligkeit des Systems im Vergleich zum “Westen” reduziert . – Davon abweichend ist es jedoch im jahrzehntelang boomenden Wohnungsbausektor zur Akkumulation kapitalismustypischer Probleme gekommen. Die dynamische Bautätigkeit für sich betrachtet passt stimmig zu den Kräften eines befreiten Marktes, zum grossen Nachholbedarf hinsichtlich der Wohnraumversorgung und zu der steigenden Nachfrage durch einen rasant wachsenden, zahlungskräftigen Mittelstand.
Doch schon die extrem angestiegenen Preise für Appartements stehen im Widerspruch zu einem fairen marktwirtschaftlichen Szenario, indem sie nur zum kleinen Teil aus gestiegenen Arbeitslöhnen im Bausektor und gestiegener Qualität der Konstruktionen erklärbar sind. Denn Rationalisierung und allgemein technischer Fortschritt halten diese beiden Einflussgrößen auf einem moderaten Niveau – pro Arbeitseinheit kann immer mehr und immer besser gebaut werden. Der überproportionale Preisanstieg bei Eigentumswohnungen steht somit inzwischen für eine handfeste Überteuerung - was die Frage nach den ursächlichen Mechanismen aufwirft.
Eine dritte statistische Größe, der hohe Wohnungsleerstand, führt der Antwort näher. Dieser liegt schon seit vielen Jahren in der gewaltigen Grössenordnung von 60 bis 65 Millionen (!) Wohnungen oder gut 20 % des städtischen Wohnungsbestandes. Selbstverständlich treten auch in einem unverfälschten Immobilienmarkt mitunter Überhänge im Wohnungsbestand auf, indem sich viele Menschen eine wenig genutzte Zweitwohnung, beispielsweise in einem Urlaubsort leisten können. Doch spielen Ferienwohnungen, gemessen an Chinas riesigen großstädtischen Appartementbeständen, keine nennenswerte Rolle. Es geht vielmehr – gegen die Regeln des freien Marktes – um gar nicht genutzten Wohnraum. Während eine intakte Marktwirtschaft alle vorhandenen Kapazitäten nutzt, führen kapitalistische Einflüsse zur Vergeudung. Entsprechend haben die steigenden Immobilienpreisen und die Wohnraum Vergeudung auch eine gemeinsame, in kapitalistischen Einflüssen wurzelnde Erklärung: In Zeiten künstlich niedrig gehaltener, unattraktiver Sparzinsen existiert ein starker Anreiz zur spekulativen Geldanlage. Damit kommen Effekte in Gang, die von Immobilienblasen im “Westen” bekannt sind, aktuell beispielsweise in der Innenstadt von London. Die von Aktienspekulation bekannten sozial schädlichen Auswirkungen sind im Falle der Immobilienspekulation noch gravierender. Denn während erstere “nur” den Vermögensaufbau einfacher Bürger behindern, behindern die zweitgenannten zugleich deren Zugang zu erschwinglichem Wohnraum.
Mit nur wenigen gesetzlichen Regelwerken liesse sich der faire Markt schonend wiederherstellen. Diese würden allerdings die materielle Interessiertheit von Politikern berühren. Die erste der notwendigen gesetzlichen Initiativen müsste die ungenutzten Wohnungen in den Mietwohnungs- und Immobilienmarkt zurückholen. Die einfachste Regelung besteht in einer bei Leerstand greifenden, sich deutlich erhöhenden Grundsteuer. Diese kann im ersten Erfassungsjahr beispielsweise 25% über dem Normalsatz liegen, im zweiten 50%, im dritten 75% usw. Damit bliebe den Eigentümern eine faire Übergangszeit zum Verkauf oder zur Vermietung und der Markt bliebe vor einer plötzlichen Marktüberflutung und dadurch platzenden Immobilienblase verschont. Da sich sämtliche Politiker und viele Staatsbeamte unter denjenigen befinden, die sich eine zweite oder dritte Wohnung leisten können, kollidieren allerdings ihre privaten Interessen mit notwendigen Entscheidungen zum Wohle der Gesellschaft.
Ein zweites gesetzliches Regelwerk müsste die Ursachen für die Preisspirale von der Angebotsseite her angehen. Solange Baugesellschaften für fertiggestellte Appartements immer weitere Preissteigerungen durchsetzen können, treten in einem fair funktionierenden Markt neue Wettbewerber hinzu, welche die überzogenen Preise unterbieten. Diese Firmen können expandieren, während die teuren Anbieter aufgrund von Vertriebsproblemen im Preis nachgeben müssen. Wie in anderen Branchen sind es Oligopole, deren beteiligte Firmen sich (evtl. stillschweigend) darin einig sind, dass ihre Preise steigen sollen – deutliches Unterbieten ist also tabu. Im Bausektor können sich solche Oligopole hauptsächlich aufgrund des willkürlichen Entscheidungsspielraums der Bauaufsichtsämter ausbilden. In Kapitel A 10. hieß es hierzu: “Bei diesen Behörden haben die grossen Baugesellschaften dank ihrer Staranwälte und stärkeren Argumente (in Gestalt von Geld für “Überzeugungsarbeit”) für ihre Projekte die besseren Chancen in Baugenehmigungsverfahren und können kleineren Wettbewerbern den Marktzutritt erschweren bis unmöglich machen.”
Der fehlende Wettbewerbsdruck im Oligopol erlaubt von den Herstellungskosten losgelöste, überhöhte Preise, wodurch solche Baugesellschaften maktwidrige Extraprofite erzielen. Die Gier danach hat selbst in der Volksrepublik China zu Erscheinungen des Raubtierkapitalismus geführt. So gehen solche extra profitablen Gesellschaften und die sie unterstützenen Baubehörden mitunter sehr brutal mit den Eigentümern der laut Plan abzureissenden alten Häuser um, wenn es darum geht, neue Appartementgebäude schnell hochzuziehen. Mitunter werden dabei auch Entschädigungsbeträge unterschlagen, welche den Alteigentümern zustehen, was so manche der Betrogenen in den Suizid getrieben hat.
Wirksame Regelungen gegen Oligopole im Bausektor und deren Preisdiktat sind
Veröffentlichung exemplarischer Preiskalkulationen (mit geschwärzten Namen) von Baugesellschaften, welche den Bürgern die exorbitanten Profite ins Bewusstsein bringen und die Akzeptanz bei weiteren Steigerungsversuchen dämpfen
Genehmigung neuer Appartementhäuser erst nach Abwicklung von Entschädigungsleistungen an Alteigentümer und nach Vorlage von abgeschlossenen Vorab-Kaufverträgen für einen bestimmten Prozentsatz der Wohneinheiten
Einrichtung von Kontrollämtern, welche die Baubehörden mit geheimdienstlicher Technik auf Korruption überwachen
Festsetzung einer landesweiten Obergrenze der Geschoss- und Wohnungsanzahl bei Appartementtürmen, um der Tendenz zur Massenunterbringung zu begegnen und um das Investitionsvolumen pro Bauvorhaben begrenzt zu halten, so dass auch kleinere Baugesellschaften eine Marktchance erhalten
Aufspaltung übermäßig angewachsener staatlicher Baugesellschaften, um mehr Anbieter in den Wettbewerb zu schicken
Verminderung der Wohnungsanzahl durch Förderung von Wohnungszusammenlegungen (durch befristet oder unbefristet ermässigte Grundsteuer) als regulierendes Instrument im Systemübergang
Indem sich chinesische Politiker und Beamte im Themenkomplex Wohnungsleerstand, Immobilienblase und Oligopol-Probleme im Bausektor in einem Konflikt zwischen persönlichen Interessen und denen der Gesellschaft befinden, stehen sie an dieser Stelle vor ihrer entscheidenden Bewährungsprobe. Die Beispiele der untergegangenen Sowjetunion wie auch der verschleuderten ostdeutschen Industrie sollten als Warnung vor der besonderen kapitalistischen Gefährdung aller Nationen dienen, die sich in Reformschritten aus einer leninistischen Organisationsform in eine marktwirtschaftliche entwickeln wollen. Die Gefahr geht von der Macht des Geldes aus und findet dort ihre Angriffspunkte, wo die materielle Interessiertheit das Leitmotiv der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger darstellt, so dass das Gemeinwohl aus dem Fokus gerät.
Während das sowjetische Establishment der Ära Gorbatschow diese Bewährungsprobe nicht bestanden hat, gibt die bisher hervorragend gelaufene Wirtschaftsreform in China Anlass zu der Erwartung, dass es auch im Sektor Wohnungsbau gelingen sollte, sich aus der tückischen kapitalistischen Falle zu befreien. Dazu ist es erforderlich, die gewaltige Dimension des Problems rational zu erfassen, denn in diesem Sektor akkumulieren sich die Widersprüche zwischen drei Systemen - dem Leninismus, dem Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft.
Wie in anderen leninistisch beeinflussten Staaten wurde auch in China das private Eigentum an Grund und Boden abgeschafft, interessanter Weise erst 1982, nachdem bereits der Reformprozess Richtung Marktwirtschaft angelaufen war. Soweit das Land nicht landwirtschaftlichen Kooperativen gehört, ist der Staat heute alleiniger Eigentümer. Zwar wurde spätestens mit dem Property Rights Law von 2007 das Recht auf Privateigentum an Gebäuden zugesichert, aber für das zugehörige Land kann nur ein Nutzungsrecht auf bis zu 70 Jahre eingetragen werden. Auch wenn sich das Recht nach Ablauf automatisch verlängert, widerspricht die rechtliche Trennung zwischen Grundstücks- und Gebäudeeigentum dem Prinzip des freien Marktes, indem sich der Wohnungs- oder Hauseigentümer in einer abhängigen Position befindet, abhängig von der Entwicklung der Pachthöhe und letztlich sogar von der Einhaltung des Versprechens, das Nutzungsrecht zu verlängern.
Der National People's Congress sollte daher das bisherige, leninistisch beeinflusste Landeigentumsregelung für Gewerbe- Wohnbebauung auf eine marktwirtschaftliche umstellen, und zwar primär aus zwei psychologischen Gründen. Der eine hat mit der materiellen Interessiertheit der politischen Entscheidungsträger zu tun und wird weiter unten näher erläutert, der andere basiert auf der erheblichen sozialen Orientierung des Menschen an der Familie. Aus dieser ergibt sich ein hoher Stellenwert des gemeinsamen Heims, das sich idealer Weise im uneingeschränkten Eigentum der Familie befinden sollte, und zwar generationenübergreifend. Eine administrative Zeitbegrenzung stört das Sicherheits- und Harmoniebedürfnis, welches die vielen Baustellen im Leben abschliessend so klar wie möglich geregelt sehen möchte, u.a mit einem gesicherten Arbeitseinkommen, mit geregelter Ausbildung der Kinder und eben auch einem Familienheim als Lebensmittelpunkt und Zentrum dieser Harmonie. Die Zulassung privaten Eigentums an Baugrundstücken müsste an den staatlichen Einnahmen nichts ändern, denn die Nutzungspacht lässt sich durch eine angepasste Grundsteuer ersetzen und statt der nach 70 Jahren fälligen Verlängerungsgebühr eine Erbschaftssteuer erheben. Vor allem aber brächte die Bodenrechtsreform in der aktuellen Situation eines spekulativ aus dem Gleichgewicht geratenen Marktes für Wohneigentum eine Absicherung gegen ein Platzen der Immobilienblase, also einen rasanten Absturz der Preise nach Jahrzehnten des Anstiegs.
Wie elementar wichtig es ist, den Bausektor von Oligopolen und sonstigen marktverfälschenden Einflüssen zu befreien, hat namentlich das Beispiel der japanischen Finanz- und Immobilienblase von 1989 gezeigt. Der beachtliche wirtschaftliche Aufstieg Japans in den 1980er Jahren war den Geldmagnaten offensichtlich ein Dorn im Auge. 1985 kam es in New York zum sogenannten Plaza-Abkommen zwischen den Regierungen der 5 damals führenden Industrieländer. Darin wurden - als beschämendes Zeugnis eines unfassbaren wirtschaftspolitischen Dilettantismus - anhaltende manipulative Eingriffe in den Devisenmarkt vereinbart, um den hohen Dollarkurs gegen Marktgesetze auf ein niedrigeres Niveau zu drücken, speziell auch gegenüber der japanischen Währung. Das Resultat bestand in einer gigantischen Finanz- und Immobilienblase in Japan, auf deren Höhepunkt die Summe der dortigen Immobilien nominal viermal so viel Wert hatte wie diejenige in den gesamten USA. / Vgl. Christoph Sackmann, Größte Blase der Geschichte, 21.09.2016, in Finanzen100, Referenz https://www.finanzen100.de/finanznachrichten/wirtschaft/groesste-blase-der-geschichte-die-finanzkrise-war-laecherlich-verglichen-damit-was-japan-vor-30-jahren-erlebt-hat_H250345393_324940/
Mit dem Platzen der so erzeugten Blase trat Japan in eine wirtschaftliche Schwächephase ein, die bis heute nicht überstanden ist, so dass sich das Land wieder brav in die Riege der vom Kapitalismus beherrschten “langsamen” Länder einreiht – siehe Schluss des Kapitels A 28.
Mit dem warnenden japanischen Beispiel vor Augen wird ein bald besser aufgeklärtes Bewusstsein der chinesischen Bürger unvermeidbar die Tatsache verinnerlichen, dass neue Wohnungen gemessen an den Baukosten jahrelang überteuert verkauft worden sind. Diese Einsicht wird die Bereitschaft, weitere Preissteigerungen zu akzeptieren, dämpfen. Chinesische Politiker können bei näherer Befassung mit dem japanischen Fall auch erkennen, dass man die Auswirkungen einer Marktstörung nicht mit manipulativen Eingriffen heilen kann, die noch weiter vom freien Markt wegführen. Eine Bodenrechtsreform und damit das - psychologisch wichtige - Eigentum am Grund und Boden (bei Appartements Miteigentumsanteile) ist die alternativlos einzige Massnahme, die dem augenblicklichen Preisgefüge für Wohnimmobilien einen festen Ankergrund bieten und gegen ein Einbrechen stabilisieren kann. Auf eben dieser Grundlage können und sollen die chinesischen Politiker ihre privaten und gesellschaftlichen Interessen miteinander in Einklang bringen und ein Reformpaket auf den Weg bringen, das leninistische Hemmnisse beseitigt, zugleich kapitalistische Bedrohungen abwendet und die Gesellschaft der marxschen Vision einer Assoziation näher bringt, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Karl Marx, Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, MEW 4, S. 482.