Das Gehirn des Menschen ist keineswegs die zuverlässige, vorrangig für das rationale Erfassen objektiver Erkenntnisse konzipierte Denkmaschine, für die es gemeinhin gehalten wird, sondern schlicht ein mit Datenverarbeitung befasstes Überlebensorgan. Auch ist Intelligenz nicht seine entscheidende - nämlich tatsächlich die Entscheidungen treffende – Instanz und Betriebseigenschaft. Es sind vielmehr Emotionen wie Angst, Neid, Eifersucht, Liebe oder Demut, denen eine weithin dominierende Rolle zukommt. Unter ihrem Einfluss kommt es zu entsprechenden Verhaltensmustern wie Flucht, Mobbing, Fürsorge, Unterordnung, Eifersuchtsverhalten oder Übernahme von Wertungen.
Es ist sehr lohnend, die Beobachtungsgabe dazu zu verwenden, das Verhalten von Mitmenschen – unbedingt, aber auch von sich selbst – auf eben dieses Zusammenspiel zwischen Emotionen einerseits und Verstand andererseits hin zu beobachten.
Sigmund Freud (1856 – 1939), der berühmte Arzt (Neurologe) und Begründer der Psychoanalyse, unterschied in seinem Persönlichkeitsmodell das spontan-instinktive Steuerungselement, das „Es“, vom bewusst-rationalen Teil der Persönlichkeit, das er treffend als „Ich“ bezeichnete. Bereits ab dem frühen Kindesalter schaltet sich dieses „Ich“, also der Verstand, zwischen die spontanen Bedürfnisse des „Es“ - z.B. Hunger - und die Handlung, in diesem Fall das Essen. Aufgabe des Verstandes ist es, bei einem gespürten Bedürfnis eine Strategie zu entwerfen, mit der sich dieses befriedigen lässt, hier z.B.: „Ich habe Mama gestern nach dem Einkauf mit Kekspackungen zur Vitrine gehen gesehen“. Der Verstand kann zu dem Ergebnis kommen, dass die Umsetzung des Wunsches (zu essen) besser auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden sollte und „zügelt“ den spontanen, emotionalen Impuls des „Es“.
Die vorgeschlagenen Beobachtungen an Mitmenschen sind besonders dann ergiebig, wenn starke Emotionen auftreten. „Liebe macht blind“, wussten schon unsere Vorfahren, ebenso treffend heißt es „blind vor Wut“. Blind heißt in beiden Fällen realitätsentrückt, unfähig, mögliche weiterreichende Handlungskonsequenzen zu bedenken. Der Verstand wird umso stärker in den Hintergrund gedrängt, im Extremfall geradezu abgeschaltet, je stärker die Emotionalisierung vorangeschritten ist. - Eine der praktischen Nutzanwendungen solcher Beobachtungen besteht in der Meidung potenziell emotionalisierender Einflüsse vor und in Situationen, welche einen leistungsfähigen „kühlen“ Verstand erfordern, beispielsweise Prüfungen.
Eine Verstandes Blockade durch Emotionen kann allerdings weitaus gravierende Auswirkungen haben als nur Konzentrationsmangel in Prüfungssituationen, und zwar im gesellschaftlichen Umfeld. Beunruhigender Weise ist das Phänomen in der kapitalistisch dominierten „westlichen“ Zivilisation im Zunehmen begriffen. Selbst Richter, bei denen man vor dem Hintergrund ihrer Bildung und eines unterstellten Berufsethos die klare Trennung von Person und Sache Erwägungen vermuten sollte, sind gegen das Phänomen nicht immer gefeit. - Mitunter verschafft sich das persönliche Geltungsbedürfnis Vorrang und schiebt den urteilenden Verstand beiseite, beispielsweise dann, wenn der Richter/ die Richterin in der Verhandlung spürt, dass ein Prozessbeteiligter ihm/ ihr intellektuell überlegen ist. Dann können tribalistische Psycho-Mechanismen Machtdemonstration auslösen – siehe Punkte 8.5 und 8.6 in Kapitel A 18.
Emotionale Impulse können grundsätzlich zwei verschiedene Ursprünge haben, das „Es“ und das „Ich“. Das „Es“ steht für die verschiedenen Instinkte wie z. B. Selbsterhaltungstrieb, Sexualtrieb und Spieltrieb. Der zweite Ursprung von Emotionen ist stammesgeschichtlich neuer und bei Tieren wenig entwickelt, Freud nannte ihn das „Über-Ich“. Dabei handelt es sich um eine vor allem während der kindlichen Erziehung, aber auch noch im Erwachsenenleben programmierbare Kontrollinstanz, in welcher ethische Maßstäbe wie Moral und Wertvorstellungen abgespeichert werden. Emotionale Impulse in der Interaktion mit anderen Menschen entspringen regelmässig diesem Über-Ich - beispielsweise, wenn sich jemand über andere entrüstet, sich einer Tat schämt oder sich zu Dank verpflichtet fühlt.
Auf die Programmierung der eigenen moralischen Kontrollinstanz hat ein Mensch während der Kindheits- und Jugendentwicklung praktisch keinen und auch im Erwachsenenalter bemerkenswert wenig Einfluss – woran aber durch Bewusstmachung rationell gearbeitet werden kann und unbedingt sollte. Die Wertmaßstäbe und moralischen Regeln des Über-Ich werden überwiegend von den erziehenden Eltern, Lehrern und anderen Personen des persönlichen Umfeldes programmiert. Dabei wird ein Gewissen geformt, sozusagen ein innerer Tugendwächter, der – dem bewussten Verstand, dem Ich, Ziele und Grenzen vorgeben kann. Das geschieht in Konkurrenz mit dem instinktiven „Es“. Beispielsweise kann das oben erwähnte hungrige Kind den Zugriff auf die Kekse auch deshalb unterlassen, weil ein im Gewissen abgespeicherts Tabudie Handlung blockiert.
Nur unter Schwierigkeiten und allmählich kann der erwachsene Mensch mit Hilfe des Verstandes solche Bewertung Klischees des Über-Ich in Frage stellen und überwinden. Dann können sogar Lebensziele und Gruppen Sympathien einer Neuausrichtung erfahren. Diese Feststellung ist deshalb von unermesslicher Bedeutung, weil in dieser Möglichkeit die große Chance zur absolut gewaltfreien Ablösung des ausgedienten und mittlerweile extrem gefährlichen Kapitalismus liegt (siehe Kapitel A 31 „Das einkalkulierte Chaos“). Realistischer Weise kann der friedliche Wandel ausschliesslich in den Händen eines aufgeklärten Establishments mit entsprechend korrigiertem Über-Ich vollzogen werden.
Bei vielen (v.a. sensiblen) Menschen ist der innere Tugendwächter des Über-Ich so stark entwickelt, dass die instinktiven Regungen aus dem Es durch erzieherische Gegenprogrammierung erheblich unterdrückt und evtl. abgewandelt werden. Der Vorteil eines solchen Charakters liegt darin, dass die Person leicht zu fairem Umgang mit Mitmenschen erzogen werden kann. Die bedenkliche Kehrseite äussert sich in unkritischer Folgsamkeit, mit welcher jedem Konformitätsdruck nachgegeben wird. Damit bilden betont moralgesteuerte Menschen leider auch potenziell den „idealen“ Grundstock für jedes unfreie Gesellschaftssystem, in welchem der Unterordnung absoluter Vorrang vor persönlicher Freiheit zukommt.
In allen autoritären Staaten hat, offenbar bereits seit dem Aufkommen erster Stadtkulturen, eine ungünstige charakterliche Entwicklung der Menschen stattgefunden, denn freiheitlich gesinnte Personen mit einem vom „Autonomous State“ (nach Milgram) geprägten Verhaltensprofil konnten leicht in lebensgefährliche Konflikte mit den Herrschenden/ der Obrigkeit geraten. Als Ergebnis dieser Epoche sind selbst die traditionell nach Freiheit strebenden Menschen Europas (und deren Nachkommen in Nord- und Südamerika) viel weniger gut an ein freiheitliches Leben angepasst, als ihnen gemeinhin klar ist.
Das Phänomen der weggeschalteten Vernunft unter Konformitätsdruck begegnet dem Beobachter auf Schritt und Tritt. Allein Politiker, also Menschen mit einer überdurchschnittlichen Intelligenz und einer überdurchschnittlichen ökonomischen Bildung, liefern reichlich Beispiele, u.a. durch ihre Schuldenpolitik. Die kapitalistische Geldmarktsteuerung hilft mit ihren niedrigen Zinsen dabei, den ohnehin blockierten Verstand der Parlamentarier zusätzlich zu betäuben, indem die Schuldenlast nun gar nicht mehr so drückend erscheint. Nicht der Verstand fehlt hier, sondern der wirklich freie Zugriff auf ihn.
Zu Recht wird einem angehenden Busfahrer ein über den reinen Fahrunterricht hinausgehendes spezielles Sicherheitstraining abverlangt, bevor ihm die Verantwortung für die Unversehrtheit von rund 50 Fahrgästen betraut wird. Noch weit härter und gründlicher ist folgerichtig die Ausbildung eines Piloten für Verkehrsflugzeuge, denn von seinem Können sowie von seiner charakterlichen Stabilität und Abgeklärtheit auch in kritischen Situationen hängt das Leben von bis zu einigen hundert Menschen ab.
Spitzenpolitiker und hohe Militärs, in deren Händen die Entscheidung über Krieg und Frieden liegt, mitunter also über Leben oder Tod von Millionen von Menschen, müssen absurder Weise keinerlei Sicherheitsausbildung vorweisen, das sie auf ihr hochsensibles Betätigungsfeld vorbereitet. Im Regelfall verfügen sie kaum über Grundkenntnisse auf den hier relevanten Gebieten der Psychologie und biologischen Verhaltenslehre. Dabei sollten umfassende Kenntnisse dieser Wissenschaften mit besonderer Vertiefung auf dem Gebiet der Entstehung von Gewaltbereitschaft und psychologischen Abwehrmechanismen (Anna Freud) eine Zugangsvoraussetzung für politische und juristische Ämter darstellen. – Die alten Römer waren in diesem Punkt bereits weiter, indem ein siegreicher Feldherr auf seinem Triumphzug fortgesetzt daran erinnert wurde, dass er nur ein Mensch ist.
Besonders Männergehirne erweisen sich oft als erschreckend empfänglich für eine gruppenorientierte Emotionalisierung durch charismatische oder einfach nur selbstbewusst auftretende ranghohe Personen und ihre Propaganda. Unterstützt durch Symbole und Riten wie Fahnenappell, Synchrone Bewegungen (Gleichschritt), Hymnen, Wappen, Uniformen, Rangabzeichen usw. kommt eine emotionale Gruppenprägung zustande.
Gerät in einer solchen emotionalisierten Gruppe noch der Initialfunke eines Feindbildes, ist es für eine freie Nutzung des Verstandes zu spät. Die Intelligenz steht dann im Dienste der nun in Automatismen ablaufenden kriegerischen Auseinandersetzungen. Das eigene Todesrisiko - noch deutlich mehr das von Untergebenen - wird Erwägungen zu Strategie und Taktik der Gruppe (Truppe) untergeordnet, die Tötung von anderen Menschen, eben denen, die von oben zu Feinden erklärt wurden, wird ein gültiges Ziel. Wir haben eine Kampfmaschine vor uns, die gegenüber (vermeintlich) gegnerischen Menschen zu annähernd allem in der Lage ist, was innerhalb der eigenen Gesellschaft durch Gesetze, Normenunterwerfung und Rechtsempfinden verhindert wird: Tötung, Folter, Verstümmelung, Plünderung, Vergewaltigung. - Die grausamsten Krieger können daheim die zärtlichsten Väter, bravsten Ehemänner und rechtschaffensten Bürger sein.
Vor all diesen sehr ernst zu nehmenden psychologischen Effekten und Zuständen sind auch Menschen, die in der „westlichen“ Zivilisation aufgewachsen sind, in keiner Weise geschützt. Im Kapitel A 12. „Pressefreiheit“ wurde die demokratie widrige Zensur- und Propaganda Behörde „Creel Committee“ während des 1. Weltkrieges erwähnt. Auch im Verlaufe des 2. Weltkrieges konnte die hohe Politik die Etablierung einer Einrichtung mit vergleichbaren Funktionen durchsetzen, des Office of War Information. Der Blindheit der Politiker, welche diese Demontage des Rechtsstaats zugelassen haben, entsprang demselben psychologischen Mechanismus, der die Probanden in den Experimenten Stanley Milgrams (Kapitel A 1.) in einen verantwortungs fernen „Agenti State“ überführt hatte, nämlich in einem autoritären Erwartungsdruck.Das Resultat dieser Aufgabe freiheitlich-rechtsstaatlicher Grundprinzipien bestand in Kriegshysterie.
Geschehenes als Fakt ohne nachträglichen Groll zu akzeptieren ist ein wichtiges Prinzip reifer und konstruktiv nach vorne gerichteter Umgangsformen. Eine Bewertung und kritische Aufarbeitung zurückliegender Fehler ist dagegen unverzichtbar, um die richtigen Schlüsse für die Zukunft ziehen zu können. – Doch genau das ist in diesem Fall politisch nicht erwünscht, denn der historische Schandfleck soll offenbar vergessen werden - ebenso wie das für den Fall der britischen East India Company zutrifft (Kapitel A 4. „Imperialismus“). - Noam Chomsky hat wie gesehen statt des richtigen Begriffs „Creel Committee“ den damit leicht verwechselbaren Begriff „Creel Commission“ verwendet. Der offizielle Name lautete „Committee on Public Information“/ CPI, ihr Direktor war George Creel. Wer im Internet unter „Creel Commission“ sucht, findet eine Rockband dieses Namens, wird aber zu dem politisch brisanten Thema „zufällig" nicht fündig.
In diesem Zusammenhang ist nachträglich anzumerken, dass auch die Internetsuche nach den extrem aufschlussreichen Beobachtungen der englischen bzw. britischen Außenpolitik durch den chinesischen Politiker und Philosophen Su Yat-Sen seit August 2022 nicht mehr erfolgreich ist – siehe Kommentar D 1., Abschnitt 4.