Das tribalistisch organisierte Herrschaftssystem der Geldoligarchen basiert auf dem Prinzip einer indirekten, aber sehr wirksamen Kontrolle, wobei jede einzelne Person auf ihrer jeweiligen Position im „Agentic State“ gehalten wird, also gehorsam nach oben und durchsetzungsbereit nach unten. In einer solchen hierarchischen Machtpyramide lassen sich sogar offenkundige Straftaten (wie beispielsweise Betrug, siehe Beispiele im Kapitel A 5. „Kollaboration zwischen Staat und Kapital“) von einer höheren Etage aus in die Wege leiten, und zwar ohne nennenswertes Aufdeckungsrisiko für die Initiatoren.
Bezieht man einmal mehr das Prinzip der „Philosophie der herrschenden Klasse“ nach Marx in die Betrachtung ein, bedeutet das auch, dass der vom Kapitalismus beherrschte Rechtsstaat zwingend so angelegt sein muss, dass jede Strafverfolgung durch Ermittlungsbehörden und Justiz spätestens dann abgefangen wird, wenn sie weiter nach oben in die Gefilde eigentlicher Macht vordringen soll. Dafür stehen allerdings allein psychologische Möglichkeiten der Verhaltensbeeinflussung zu Gebote, denn der äußere Rechtsrahmen und die formale demokratische Ordnung dürfen nicht angetastet werden.
Zu diesem psychologischen Repertoire rechnet namentlich das Arbeiten mit dem tribalistischen Schlüsselfaktor Angst. Durch ihn bleiben unfaire Machenschaften hinter einem Ring des Schweigens sehr wirkungsvoll verborgen und selbst im Aufdeckung Fall vermag der Rechtsapparat nicht bis in die hohen Gefilde der eigentlichen Macht - und damit Verantwortung - vorzudringen. Ein Beispiel liefern mit bereits sehr langer Historie die Spitzen der Drogenkartelle. Nur in bemerkenswert grossen Abständen kommt es zur Festnahme eines der hochrangigen Bosse. Bemerkenswert oft gelingt dagegen eine perfekt vorbereitete und koordinierte (mitunter sensationelle) Befreiungsaktion selbst aus Hochsicherheitseinrichtungen.
Um einen solchen Ring des Schweigens zu brechen, finden zwei rechtsstaatlich korrekte Verfahren Anwendung, die allerdings noch sehr viel ungenutztes Verbesserungspotenzial besitzen. Das eine besteht im Schutz von Zeugen durch Verleihung einer neuen, tarnenden Identität, welche auch gesichtschirurgische Maßnahmen einschließen kann. Die Rechtfertigung besteht im Prinzip des Vertrauensschutzes sowie im berechtigten physischen Schutzinteresse des Zeugen. Das zweite ist als Kronzeugenregelung bekannt. Diese Maßnahme bietet Beschuldigten Strafmilderung oder sogar Straffreiheit gegen Mithilfe bei Ermittlungen gegen andere Beteiligte. Die Rechtfertigung liegt im Vorrang einer effektiven generellen Strafverfolgung gegenüber der Ahndung von Straftaten einer Einzelperson, hier des Kronzeugen. Im Nebenaspekt ist die Mithilfe als Schritt in die Rehabilitation zu werten und im Sinne des Belohnungsprinzips zu honorieren. Drittens geht es um eine Kompensation für die definitive Gefährdung, welcher sich ein Kronzeuge aussetzt.
Die Kooperation eines einzelnen Kronzeugen lässt sich zu einer Kooperation mehrerer/ vieler Zeugen ausbauen, ...
... wenn die Anforderung, dass jeder einzelne Zeuge „einen wesentlichen Beitrag zur Überführung anderer Tatverdächtiger“ leisten muss, heruntergeschraubt wird. Denn bereits mit dem Frontenwechsel werden entscheidende Ziele erreicht, nämlich der genannte Schritt zur Rehabilitation sowie die Unterminierung der tribalistischen Gruppenbindung.
... wenn die Kooperation eines Kronzeugen nicht nur ihm selbst, sondern auch allen anderen Beschuldigten auf seinem Rangordnung Niveau sowie darunter erheblich strafmildernd zugute kommt – und zwar von dem Moment an, in welchem die Zeugenaussagen Ermittlungen gegen höherrangige Tatbeteiligte ermöglichen. Der Kronzeuge steht nun unter Seinesgleichen nicht als Verräter und „Nestbeschmutzer“ da, sondern als Held. In der Folge verringert sich die Hemmschwelle für andere, ebenfalls den besagten Frontenwechsel zu vollziehen. In diesem finden sich idealerweise letztlich fast alle Beteiligten auf dem betreffenden Rangordnung Niveau zusammen, so dass es zur teilweisen Emanzipation in den „Autonomous State“ kommt und zur Auflösung der tribalistischen Struktur.
... wenn die Schuld-Weitergabe nach oben als festes, gegen tribalistische Strukturen gerichtetes Rechtsprinzip eingerichtet wird.
Im Gesamtresultat wird es so möglich, die tribalistische Rangordnungspyramide per Dominoeffekt zu kippen – mittels ihres systemeigenen Prinzips, Anweisungen von oben nach unten, die Verantwortung (psychologisch) aber von unten nach oben weiterzureichen.
Auch auf der Ebene der Judikative, der rechtsprechenden Gewalt, besteht Reformbedarf. Zum einen ist jede Einmischung der Politik in die Besetzung von Richterämtern abzustellen, da eine solche Praxis erstens die nicht parteipolitisch gebundenen Bewerber diskriminiert und zweitens dem Prinzip der Gewaltenteilung widerspricht.
Weiterhin ist die personelle Ausstattung von Richterkollegien nach psychologischen Kriterien zu überdenken: In sehr vielen Ländern wird an höheren Gerichten in Kollegien aus 3, 5, 7 oder mehr Richtern verhandelt und entschieden. Die Personalkosten des Staates sowie auch der allgemeine Mangel an Richtern relativ zum Aufkommen an Rechtsfällen werden dadurch erheblich gesteigert. Der vermeintliche Gewinn an Gründlichkeit bei der Entscheidung Abwägung, welcher durch die Befassung von mehreren hochqualifizierten Juristen mit demselben Fall erreicht werden soll, wird jedoch namentlich dann konterkariert, wenn es innerhalb eines Kollegiums einen „vorsitzenden“ Richter gibt. Eine solche Rangordnung Konstellation stört grundsätzlich alle selbstverantwortlichen Denkvorgänge im Autonomous State. - Im Richteramt untergräbt sie das fundamentale Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit. Letztere ist insbesondere dann nicht gewährleistet, wenn der „vorsitzende Richter“ mit der Beurteilung seiner „Beisitzer“ betraut ist, wie das beispielsweise in Deutschland der Fall ist. Ein „nur“ beisitzender Richter in einem Kollegium kann nach einfachsten psychologischen Regeln niemals völlig unabhängig von der jeweiligen Rechtsauffassung des Vorsitzenden argumentieren, verhandeln und entscheiden, wenn seine beruflichen Beförderungschancen maßgeblich von der Beurteilung durch den Vorsitzenden abhängen.
Auch auf der Ebene des Parlaments finden sich Regelungen, die tribalistischen Verhaltenstendenzen Vorschub leisten. Bekanntlich dient das Wahlgeheimnis der Gewährleistung eines unabhängigen, nicht etwa durch Angst vor Repressionen beeinflussten Votums. Auf der Ebene von Parlamentswahlen trägt man dem durch das Bereitstellen von Wahlkabinen Rechnung. Doch demselben Prinzip wird auf der Ebene der Votumsabgabe durch die Abgeordneten im Parlament nur völlig unzureichend Rechnung getragen. Dabei bedarf der Abgeordnete für die Gewährleistung einer unabhängigen Abstimmungsentscheidung noch dringender eines wirkungsvollen Schutzes vor Repressionen als der Bürger auf der Ebene der Abgeordnetenwahl. Denn repressive Eingriffe gegen Millionen von Wahlberechtigten erfordern einen grossen und nicht zu verbergenden Aufwand, während es sehr einfach ist, die relativ wenigen Abgeordneten auf ihr Abstimmungsverhalten hin zu kontrollieren und sie Repressionen u.a. von Seiten der jeweiligen Parteiführung auszusetzen. Es genügt unmittelbare Beobachtung oder Zugriff auf die Überwachungskameras im Parlament, um die Unabhängigkeit des Votums auszuhebeln. Im Regelfall wird nur durch Handaufheben votiert, so dass prinzipiell jeder im Plenarsaal sehen kann, wer wie abstimmt. Seit Kameras in den Parlamenten installiert sind, ist die Beaufsichtigung nochmals erleichtert. Im Deutschen Bundestag hat man jedoch bereits vor diesem technischen „Fortschritt“ eine Methode institutionalisiert, welche ein Maximum an Beaufsichtigung sicherstellt, den Hammelsprung. – Bei knappen Ergebnissen im Modus des Handaufhebens müssen sämtliche Abstimmungsberechtigten den Plenarsaal verlassen - um ihn anschließend durch zwei getrennte Eingänge wieder zu betreten, einen Eingang für diejenigen, die dem Gesetz zustimmen, den anderen für diejenigen, die ihn ablehnen. Größer als in diesem Verfahren kann der auf einen Parlamentarier lastende Konformitätsdruck kaum sein – nämlich für Konformität mit seiner Parteispitze.
Solche Formen tribalistischer Beaufsichtigung untergraben die Möglichkeiten, sich ein selbstverantwortliches Urteil zu bilden und dieses unabhängig von der jeweiligen Führungsspìtze zu vertreten. Die von letzterer unbilliger Weise erwartete Fraktionsdisziplin stellt eine Behinderung des autonomen Denkens zugunsten mittelalterlicher Ein- und Unterordnung dar.
Die Konformitätserwartung ist deshalb unbillig, weil es bei Abstimmungen über Gesetzesvorlagen nicht um ein Machtspiel „unsere Partei gegen die anderen“ zu gehen hat, sondern um die bestmögliche Wahrnehmung der Interessen der Nation. Parteistrategen, die ihre Fraktionsmitglieder zu „gültigen Stimmen auf zwei Beinen“ degradieren, welche man unter Beraubung ihrer freien Selbstverantwortung beliebig auf die Waagschale der Macht beordern kann, tragen eine sehr wesentliche Mitschuld an der faktischen Abwehrschwäche der Demokratie gegenüber dem ungerechtfertigten Machtanspruch der Geldelite (Genaueres in Kapitel A 27 „Freiheitliche Demokratie ...“).
Auch auf Seiten der Bürger ist eine Verbesserung psychologischer Kenntnisse dringend geboten, um Politik und Politiker besser durchschauen und Propaganda als solche erkennen zu können. Noam Chomsky empfahl Bürgern demokratischer Gesellschaften, Kurse für mentale/ psychologische Selbstverteidigung zu besuchen “um sich gegen Manipulation und Kontrolle wehren zu können“ Noam Chomsky, Referenz: www.beruhmte-zitate.de
Diese Idee des mutigen Kritikers stellt zugleich eine Anregung für Journalisten sowie andere in den Medien Tätige dar. Sie geht weiterhin an die Bildungs- bzw. Kultusminister, welche der Einrichtung des Schulfaches Psychologie so bald wie möglich den Weg ebnen sollten. - „Haben Sie heute schon Ihre Aufmerksamkeit erregt?“ Diese Frage erscheint auf den ersten Blick absurd, aber gerade diese Fehleinschätzung zeigt, wie wenig Selbstwahrnehmung allgemein entwickelt ist. Dabei schützt man die korrekte Selbstwahrnehmung vor Hypokrisie und fördert dadurch Fairness..
Um den Tribalismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen überwinden zu können, muss man zunächst lernen, ihn zu erkennen. Hierzu bieten die Verhaltensprofile unter Punkt 8.1 bis 8.12 und 9.1 bis 9.8 im Kapitel A 18 „Anonymität, Macht und ihre destruktiven Folgen“ eine Orientierung. So liegt bei Rangordnung hoher Personen laut Punkt 8.2 oft eine „große Sensibilität hinsichtlich der Befindlichkeit und möglichen Gefährdung (durch politischen Umsturz) der eigenen Person“ vor. So galt „Majestätsbeleidigung“ vor der demokratischen Ära als schwere Straftat, da beispielsweise kursierende Spottlieder oder Witze die Autorität des Herrschers hätten untergraben können. – Doch lässt sich durch Spott ausschließlich eine unverdiente Autorität erschüttern, nicht dagegen eine durch demokratische Vertrauensgewährung oder Leistung erworbene. Angenommen, jemand hätte Leistungsträger wie Einstein, Goethe oder Washington verspottet oder beleidigt - die Beleidigung wäre schlicht an dem Beleidigten wirkungslos abgeprallt und auf den Beleidiger zurückgefallen. Letzterer hätte sich als jemand mit mangelhaften Umgangsformen geoutet, während der Beleidigte die Attacke gar nicht gespürt hätte - weil er souverän über den lächerlich sinnlosen Worten stand.
Die psychologischen Wurzeln der ausgeprägten Sensibilität für Beleidigungen liegen in einer unsicheren, ungefestigten Persönlichkeit, welche ihr narzisstisches Ego mittels harter „rechtlicher“ Bestimmungen zu schützen trachtet. Laut Punkt 8.5/ Kapitel A 18 sind solche Personen voller „Misstrauen und Neid gegenüber auffallend tüchtigen und fähigen Menschen, welche die eigene Rangposition gefährden könnten“.
Harte Ahndung von Beleidigung ist daher kennzeichnend für überholte tribalistische Gesellschaftsformen. In freiheitlichen Demokratien sollte Beleidigung eher als Bagatelle eingestuft werden – solange sie nicht zur (sachlich inkorrekten) Verleumdung oder aggressiv emotionalisierenden Hassattacke abgleitet.
Das Thema für sich wäre selbst kaum mehr als eine Bagatelle, wenn es nicht mit einem weiteren Angriff auf Grundfreiheiten in direkter Verbindung stände. Konkret geht es um die Beschneidung des freien Wortes, um die Meinungsfreiheit, namentlich im Internet. Es ist bereits als gängige Praxis eingerissen, dass Beiträge und Kommentare in Sozialen Medien und Internetforen von Moderatoren mit dem Vermerk eines angeblichen Regelverstoßes, meistens einer Beleidigung, gelöscht werden. Ob vor der Löschung tatsächlich eine Beleidigung vorlag, ist kaum nachprüfbar. Solche Eingriffe umgehend abzustellen, ist nicht deshalb wichtig, weil man unbedingt Beleidigungen erlauben müsste, sondern weil es um die grundsätzliche Abwehr jeglicher Zensur von Meinungsäußerungen geht.
Mit gutem Willen finden sich problemlos Wege, beides miteinander zu vereinbaren, den absolut vorrangigen Schutz vor Zensur mit dem nachrangigen Schutz vor Beleidigung. Beispielsweise können Textstellen mit offensiver, beleidigender Ausdrucksweise von Moderatoren durch besondere Farbhinterlegung (z. B. rot) als unsachlich/ überhöht emotional herausgestellt werden, eventuell mit einem Piktogramm versehen, das einen Esel, ein Kamel o ä., evtl. mit dem Namen des Beleidigers darauf zeigt. Von Letzterem würde damit eben dieselbe Toleranz eingefordert, wie er sie dem Beleidigten abverlangt.
Das Beispiel beleuchtet einen Grundsatz: Detailregelungen sind dazu da, Prinzipien konsistent anzuwenden – nicht dazu, als Vorwand für deren Untergrabung herzuhalten.