Seit dem Auftauchen der ersten Frühmenschen (Homo habilis) hat es einen - zunächst extrem langsamen - technischen Fortschritt gegeben. Mit den ersten Stadtkulturen vor rund 7000 Jahren kam es zu einer deutlichen Beschleunigung, indem das dichte Beieinander Leben gesteigerte Möglichkeiten mit sich brachte, überliefertes Wissen und neue Ideen auszutauschen. Doch erst die geistige Befreiung und systematische Suche nach neuem Wissen, also das Betreiben von Wissenschaft ab dem 17. Jahrhundert, lieferte die entscheidenden Impulse für den Eintritt in die technische Zivilisation. Für Handwerker, Erfinder, Tüftler und Ingenieure bieten die Erkenntnisse namentlich der Physik und Chemie die Grundlagen für eine Fülle von Innovationen. Damit kam eine regelrechte Innovationslawine in Gang, die außer laufend verbesserten Gegenständen auch immer rationellere Produktionstechniken hervorbrachte, so dass sich mit demselben Arbeitseinsatz immer mehr Werte schaffen ließen.
Verglichen mit dieser gewaltigen Entwicklung von Technik und Wirtschaft sind die Fortschritte auf dem Gebiet der Gesellschaftsentwicklung weit zurückgeblieben. Bis heute steht einer arbeitenden Mittel-und Unterschicht eine inzwischen winzig kleine, nicht konstruktiv am Produktionsprozess beteiligte, aber einen wachsenden Anteil an den der Arbeitsergebnissen beanspruchende Oberschicht gegenüber. Historisch hatte ihre faire Gegenleistung einmal darin bestanden, bei Angriffen externer Feinde die Verteidigung zu koordinieren und nach innen für die Aufrechterhaltung eines gedeihlichen Miteinanders zu sorgen. Doch dieser Zirkel von Herrschenden hielt an der einmal erlangten Macht fest, indem er sie systematisch an seine Nachkommen weiter reichte. So entstand weltweit - unabhängig von unterschiedlichen Kulturen - ein Erbadel. Die der Macht ohnehin innewohnende Tendenz zur Selbstverstärkung wurde in diesem System noch gesteigert, indem ein junger Herrscher bereits auf den Strukturen der Vorfahren aufbauen konnte.
Mit dem eifersüchtigen Festhalten an der Macht schwand auch die ursprüngliche Solidarität zwischen Herrschern und einfachen Bürgern und machte einer abgehobenen, narzisstischen Oberschichten Mentalität Platz. Indem ihren Angehörigen nach ihrer irrationalen Philosophie die Berechtigung zur Machtausübung „in die Wiege gelegt“ worden war, repräsentierten die Dynastien ein Antikonzept zur fairen demokratischen Hierarchiebildung, die sich nach Befähigung und Leistung richtet. In ihrem System wurden den Untergebenen auch bei Befähigung keine Aufstiegschancen geboten, wodurch sich die gesellschaftliche Einteilung in Klassen verfestigte. Die Unterdrückung der Entfaltungsmöglichkeiten in Unter- und Mittelschicht ließ die Interessengegensätze oder, mit einem Begriff von Karl Marx, Klassen Widersprüchen anwachsen, bis sich die aufgestauten Spannungen in der Französischen Revolution (1789-1799) entluden. So fand die Adelsherrschaft ihr Ende und es entstanden Republiken. In einigen Fällen, so z.B. bis heute Großbritannien, Dänemark oder Schweden, blieb eine demokratisierte, konstitutionelle Monarchie erhalten, in welcher dem Adel nur noch dekorative bzw. repräsentative Funktionen geblieben sind.
Doch die Erwartungen der vermeintlich demokratisch befreiten Bürger wurden enttäuscht, denn es waren bereits neue Herrschaftsgruppierungen angetreten, die vormalige Macht des Adels für sich zu vereinnahmen und die sich gerade erst entwickelnden republikanischen Strukturen auszuhebeln. Marx kommentierte die Situation nach Beendigung der Adelsherrschaft so:
„Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. / Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. London, 1848 Referenz http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/marx_manifestws_1848?p=4
Mit dieser Feststellung zielt Marx auf die neu entstandene Geldaristokratie ab, welche ihr Vermögen teilweise im Überseehandel mit den Kolonien erwirtschaftet hatte und mit der industriellen Revolution auch in Fabriken investierte. Das Ziel der Französischen Revolution, die Klassenschranken nachhaltig zu überwinden, war damit in Frage gestellt, eine neue gesellschaftliche Herausforderung entstanden.
„Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat”/ Karl Marx, Das kommunistische Manifest I Bourgeois und Proletarier
In diesem Zitat präsentiert Marx eine simplifizierte Klasseneinteilung – nur noch aus Oberschicht und Proletariat bestehend – ein Mittelstand kommt nicht vor. Mit verheerenden Folgen wurde dieses simplifizierte Zweischichtenmodell später bei Lenin und entsprechend im gesamten Leninismus zur Basis einer wirklichkeitsfernen Gesellschaftssicht, indem man unterstellte, dass alle Personen oberhalb des Proletariats zur ausbeutenden Klasse der Bourgeoisie zu rechnen wären. Wann immer in einem der Länder des „realen Sozialismus“ noch Restbestände des Mittelstandes existierten, so wurden diese als „Reaktionäre“ und „Klassenfeinde“ diffamiert, benachteiligt, enteignet oder getötet, nur weil sie ihre Existenzgrundlage nicht aufgeben wollten. Die (namentlich auf Kuba bis heute praktizierte) Niederhaltung der mittelständischen Kreativität war einer von fünf Kernfehlen des Leninismus. Zu diesen zähl(t)en auch 2. die Abschaffung jeglichen Privateigentums an Produktionsmitteln (siehe Kapitel A 63.), 3. der Ersatz verantwortungsvoller und fachkompetenter Unternehmer durch politisch ausgewählte Funktionäre, 4. der (entgegen den Vorstellungen von Marx) autoritäre, undemokratische Staatsaufbau und 5. eine Planwirtschaft mit (gar nicht system notwendiger, aber aus Bequemlichkeit praktizierter) willkürlicher Festsetzung der Preise.
Die tatsächliche gesellschaftspolitische Trennlinie verläuft jedoch zwischen der kapitalistischen Oberschicht und den nicht privilegierten Bürgern. Danach bilden Unter- und Mittelschicht eine Interessengemeinschaft, indem sie von der realen Macht weitgehend ausgeschlossen sind und indem sie von ihrer eigenen Arbeit leben. Und noch ein Kriterium verbindet Unter- und Mittelschicht - sie benötigen die nicht konstruktive Oberschicht nicht.
Diese aus heutiger Sicht sich täglich deutlicher abzeichnende Interessen Kluft zwischen einer winzigen, ultrareichen Herrenklasse und allen anderen war zu Marx‘ Zeit jedoch noch keineswegs offenkundig, da deren Einfluss im Hintergrund der Politik erst in den Anfängen steckte. In der Fortsetzung des oben zitierten Textes wird klar, dass Marx die damalige Lage auf der Grundlage sehr genauer Beobachtungen auch konzeptuell korrekt beurteilte. Über den Verbleib des in seinem Zweischichtenmodell fehlenden Mittelstandes führt er aus: „Aber immer wuchsen die Märkte, immer stieg der Bedarf. Auch die Manufaktur reichte nicht mehr aus. Da revolutionierte der Dampf und die Maschinerie die industrielle Produktion. An die Stelle der Manufaktur trat die moderne große Industrie, an die Stelle des industriellen Mittelstandes traten die industriellen Millionäre, die Chefs ganzer industrieller Armeen, die modernen Bourgeois”. / Karl Marx, Das kommunistische Manifest, Kap. I Bourgeois und Proletarier, Heraushebung nachträglich
Nach dieser treffenden Analyse ist der erfolgreiche Teil des mittelständischen Unternehmertums in die Oberschicht aufgestiegen. – Was mit dem weniger erfolgreichen Teil des Mittelstandes passiert bzw. passiert ist, erklärt Marx etwas weiter unten:
„Die bisherigen kleinen Mittelstände, die kleinen Industriellen, Kaufleute und Rentiers, die Handwerker und Bauern, alle diese Klassen fallen ins Proletariat hinab, teils dadurch, daß ihr kleines Kapital für den Betrieb der großen Industrie nicht ausreicht und der Konkurrenz mit den größeren Kapitalisten erliegt, teils dadurch, daß ihre Geschicklichkeit von neuen Produktionsweisen entwertet wird. So rekrutiert sich das Proletariat aus allen Klassen der Bevölkerung”. – ebenda, Hervorhebung nachträglich
Dieses Abwandern aus dem Mittelstand, zum einen als Aufstieg in die Oberschicht und zum anderen als Abstieg ins Proletariat, war damals, zum Ende des 18. Jahrhunderts - und damit auf dem Höhepunkt der Industriellen Revolution – ein ins Auge fallender gesellschaftspolitischer Trend. Marx ging dementsprechend davon aus, dass der Mittelstand binnen überschaubarer Zeiträume fast ganz verschwinden würde und somit allein Ober- und Unterschicht übrig blieben. – Er konnte kaum vorhersehen, dass der Trend sich wenden und der Mittelstand aus wachsender eigener Kraft überdauern würde.
Der wichtigste Einzelfaktor, welcher dem Mittelstand später neues dynamisches Potenzial gab, befand sich zu Marx` Zeit noch ganz in den Anfängen – er bestand in technisch unterstützten Möglichkeiten der Kommunikation. Vor rund 7000 Jahren hatte das Aufkommen erster städtischer Siedlungen Menschen nie zuvor dagewesene Wohndichten und damit Kommunikationsmöglichkeiten beschert. Dies hatte den eingangs erwähnten gesteigerten Ideenaustausch zur Folge, welcher die entscheidende Grundlage für das Entstehen von Hochkulturen darstellte. Die industrielle Revolution brachte nochmals erleichterte Kommunikationsmöglichkeiten mit sich, namentlich durch Verbesserungen in der Zeitungs- und Buchdrucktechnik, durch den Eisenbahnbau sowie durch die elektrische Telegraphie. Aber von Telefon, Radio, Fernsehen, Fotokopiertechnik, Satellitentechnik, Internet, Scantechnik, USB-Speicher, e-book und Smartphone konnte damals noch niemand etwas ahnen. Dank des auf diese neue Weise ungemein gesteigerten Informationsflusses und Ideenaustauschs eröffneten und eröffnen sich laufend neue Chancen für talentierte Menschen aus allen Schichten, sich eine typisch mittelständische Existenz Aufzubauen – eigene Idee, eigene Initiative, eigener kleiner Betrieb.
Marx dagegen hatte - zwar isoliert betrachtet korrekt - einen ganz anderen Faktor fokussiert, nämlich den übermächtigen Konkurrenzdruck, welchen etablierte Großbetriebe mit ihrer äußerst kostengünstigen Massenproduktion zu Lasten kleinerer Firmen derselben Branche ausüben. Doch unterschätzte er dabei einen weiteren, grundlegenden Faktor, dessen Wirksamkeit ebenso wie derjenige der Kommunikationstechnik erst in Ansätzen erkennbar war und welcher gleichfalls zum Überleben des Mittelstandes beitrug, nämlich die damit zusammenhângende Innovations-Explosion, die Zunahme des Tempos, mit welchem neue Produkte entwickelt werden. Es sind größtenteils kleine Startups, neugegründete Unternehmen, die als Pioniere beweisen, dass es für gute Produktideen immer einen Markt gibt. Sie demonstrieren weiterhin, dass, sobald eine erste Serie Erfolg hat, in rascher Folge Verbesserungen vorgenommen werden, so dass sich das Produkt weiter behaupten kann, auch wenn erste Nachahmer mit ähnlichen Artikeln in Wettbewerb treten. Indem das schon etablierte Unternehmen weiter wächst, kommt es in den Vorteil größerer Serien und effektiverer Fertigungstechniken. Das ursprüngliche, weiter verbesserte Produkt kann nun billiger angeboten werden.
Dieses Entwicklungsmuster illustriert die eigentliche Quelle des Fortschritts – lebendig gehalten durch kleine und mittlere Unternehmen in einer freien Marktwirtschaft. In diesem Wettbewerb im ungestört freien Markt Mit seinem Kommen und Gehen von Unternehmen im harten, aber fairen Wettbewerb finden sich - anders als es Karl Marx in der englischen Mixed Economy der 1850er bis 1870er Jahre beobachten konnte - keine Anzeichen scharfer Klassengegensätze. Die günstigen Preise der Massenprodukte kommen den Angehörigen der Unter- und Mittelschicht zu Gute und die rationellere Fertigung mit modernen Maschinen erlaubt es, steigende Gewinne mit steigenden Löhnen zu vereinbaren. Wie Ayn Rand richtig analysiert hat, war diese Wirtschaftsform ein wesentlicher Bestandteil der Freiheit,welche die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 proklamiert hatte - „pursuit of happiness" - das Recht, sein Glück nach eigenen Vorstellungen zu machen.
Doch aus Sicht der Geldaristokratie hat das System der freien Marktwirtschaft einen entscheidenden Fehler - es bedroht ihre Machtposition, und zwar auf zweierlei Weise. Zum einen sind ihre Konzerne im freien Wettbewerb keineswegs „unsterblich“, sondern müssen sich ständig den Herausforderungen anderer, aufrückender Unternehmen stellen, das heißt innovativ sein und es bleiben. Selbst ein sehr großer Betrieb, der beispielsweise die Revolution der Foto- und Filmtechnik von Zelluloidstreifen auf digitale Erfassung und Speicherung verpasste oder die Umstellung der Leuchtmittel auf LED-Technik, konnte leicht in existenzbedrohende Schwierigkeiten geraten.
Die zweite Bedrohung des kapitalistischen Machtsystems in einer wirklich freien Marktwirtschaft besteht in den Emanzipations- und Entfaltung Chancen für Angehörige des Proletariats, welche in den Mittelstand aufsteigen können. Dadurch aber lösen sie sich weitgehend aus der Abhängigkeit vom Großkapital und es stehen ihnen sogar alle Wege bis nach ganz oben offen, also potenziell bis in den Zirkel der hohen Geldaristokratie.
Aufstiegschancen (als dynamisches Prinzip) ihrer Untertanen standen allerdings schon immer im Widerspruch zum generationenübergreifenden Festhalten (als einem statischen Prinzip) undemokratischer Herrscher an einmal gewonnener Macht.
Es geht folglich nicht nur um einen Interessengegensatz, sondern um die Unvereinbarkeit zweier Systeme, des Kapitalismus und der Marktwirtschaft. Kapitalisten benötigen andere Personen, welche die Werte schaffen, über welche sie selbst verfügen möchten. Gewähren sie diesen anderen Personen optimale Entfaltungs- und Emanzipations Möglichkeiten, wird zwar ein Maximum an Innovation und damit an Werten geschaffen, aber die Emanzipierten holen die etablierte Geldaristokratie dank ihrer Tüchtigkeit in der Generationenfolge ein und beenden deren reales Machtmonopol. Behindern die Herrschenden hingegen die Unter- und Mittelschicht in ihren Entfaltungs- und Emanzipation Möglichkeiten, konservieren sie zwar ihre Führungsposition und sichern sich auch billige Arbeitskräfte unter den zahlreichen Arbeitssuchenden, aber Innovations- und Wirtschaftsleistung bleiben weit hinter dem Potenzial zurück.
Es ist sehr offenkundig, dass sich die Kapitalisten in den „westlichen“ Ländern für die zweite der beiden Optionen, also die „langsame“, entschieden haben (was sie bereits über die Geldmarktpolitik regeln können. Hinzu treten indirekt beeinflussbare Vorgänge wie die irrationale staatliche Verschwendungswirtschaft einschliesslich militärischer Hochrüstung und Subventionspolitik. Die zur Finanzierung erforderlichen hohen Steuern bremsen das Wirtschaftswachstum. Zusätzlich behindern bürokratische Auflagen sowie hohe Lohnnebenkosten (infolge eines ineffektiven Kranken- und Sozialversicherungssystems, siehe Kapitel A 31.) insbesondere kleine Unternehmen und Startups in ihrer Innovationsentfaltung.
Die klare Entscheidung für diese „langsame“ Option bietet dem Großkapital noch zwei zusätzliche Vorteile, erstens erleichtern die ebenfalls gemächlichen ablaufenden gesellschaftlichen Entwicklungen die Übersicht und Kontrolle. Weiterhin bringt der für viele Privathaushalte rückläufige Wohlstand großes Umschichtung Potenzial, indem Vermögenswerte wie Aktien und Immobilien aus den Händen der einfachen Bürger in die der Kapitalisten oder unpolitischen Spekulanten wechseln können. Solche Umverteilungsprozesse vollziehen sich schleichend, zu Zeiten von Finanzkrisen aber in so gigantischem Umfang, dass sie den Bürgern auffallen - trotz des medialen Dauerbeschusses mit ablenkenden irrelevanten Meldungen. Das war beispielsweise 2008 der Fall, als sehr viele Immobilien den Eigentümer wechselten, oft hin zu „Investoren“ oder Hedgefonds, die ganze Häuserblocks aufkaufen konnten – und seither im Oligopol Lokal den Markt für Mietobjekte beherrschen und die Mieten nach oben treiben – beispielsweise in München.
Doch die „langsame“ Option hat für den Kapitalismus eine sehr unattraktive Kehrseite – es werden weitaus weniger Werte für eine mögliche Aneignung geschaffen. – Doch das Problem wusste man abzuhelfen.