Als Geburtsjahr des Kapitalismus wird oft 1776 angenommen, als der Schotte James Watt die erste industrietaugliche Dampfmaschine vorstellte, denn diese Erfindung machte den Weg für die sogenannte Industrielle Revolution frei, die Industrialisierung in Europa und den USA.
James Watt (1736-1819) selbst war jedoch alles andere als ein ausbeuterischer Kapitalist. Insgesamt sind ihm 7 Erfindungen zu verdanken, darunter auch die einer mechanischen Kopiermaschine, die noch bis ins 20. Jahrhundert Anwendung fand. Vielmehr verkörperte er den typischen mittelständischen Unternehmer, der mit unermüdlichem Fleiß an Verbesserungen arbeitete und nur mit Partnern zusammen die finanziellen Mittel aufbringen konnte, einen Teil seiner Ideen umzusetzen. Auch eine zweite Ebene von Schwierigkeiten teilte Watt keineswegs mit Kapitalisten, sondern mit tatsächlichen Unternehmern, nämlich die Hindernisse seitens des staatlichen Apparats. Diese begegneten ihm namentlich in Form von rechtlichen Schwierigkeiten mit seinen Patenten.
Der tatsächliche Geburtstag des Kapitalismus fällt vielmehr auf den 31.12.1600, als die englische Königin Elisabeth I. der neu gegründeten East India Company (EIC) das Privileg für den Handel auf dem indischen Subkontinent ausstellte. Die EIC war nicht die erste Aktiengesellschaft der Welt, aber wohl die erste mit dem kompletten Profil des Kapitalismus: Vor allem gründete sie sich auf enge Bindungen zwischen privatem Kapital und Staat, welch letzterer ihr Vorteile bzw. Privilegien einräumte - die Basis für ausbeuterische Aktivitäten, für welche später der Begriff Imperialismus geprägt wurde. Die EIC verkörperte die Durchdringung von staatlicher und privatwirtschaftlicher Macht in Perfektion, sie organisierte die Verwaltung, die Eintreibung der Steuern und die militärische Kontrolle auf dem indischen Subkontinent und nahm somit in vollem Umfang hoheitliche Funktionen wahr.
Es lassen sich vor allem drei Wesensmerkmale des Imperialismus identifizieren, wie sie die Kooperation von Staatsmacht und Kapitalisten hervorgebracht hat. Dies ist erstens das Antiprinzip der Herrschaft durch Schüren von Uneinigkeit unter den Beherrschten, insbesondere zwischen Religionsgruppen und gesellschaftlichen Klassen (Kasten), zweitens Ausbeutung durch Aufbrechen von Marktmechanismen und drittens die Zerstörung selbständiger Existenzen.
Letztere geschah unter anderem dadurch, dass man die traditionellen Steuereintreiber, sogenannte Zamindare, zu Grundeigentümern erklärte, wodurch aus den bis dahin selbständigen Bauern landloseLeibeigene wurden, aus den Steuereintreibern aber ein Landadel mit arbeitsfreien Einkünften – natürlich in Abhängigkeit von ihren imperialistischen Herren. / Klaus Schulte-van Pol, Der Griff nach Indien, in: Zeit Online, 14. Dez. 2000, Referenz: https://www.zeit.de/2000/51/200051_a-indiencompagni
Bald nach Einsetzen der industriellen Revolution (Erfindung des mechanischen Webstuhls 1786) exportierte die EIC riesige Mengen von billigen, industriell gefertigten Baumwollstoffen von England nach Indien, wodurch die indischen Handweber ihre Existenz verloren. Auch in Europa und den USA hatte die industrielle Produktion die Handfertigung abgelöst, doch fanden die ehemaligen Weber rasch andere Beschäftigung in der Industrie. In Indien dagegen waren sie buchstäblich dem Hungertod ausgesetzt, weil Industrialisierung ausdrücklich nicht stattfinden sollte.
Die Beherrschung des indischen Subkontinents durch die EIC folgte der Devise, ein Maximum an Profit herauszuquetschen und den Aufwand dabei auf ein Minimum zu beschränken. Dazu wurde eine indirekte Herrschaft etabliert, welche unter weitgehender Belassung des Verwaltungs- und Justizapparates in den Händen der bisherigen Mogulherrscher funktionierte. Man begnügte sich damit, diese Herrscher ihrerseits zu beherrschen, was mit einem zunächst überschaubaren militärischen Potenzial möglich war.
Damit präsentierte die EIC in Indien ein kapitalistisches Vollprogramm:
minimaler eigener Aufwand durch Einrichtung einer Machthierarchie autonom agierender Kollaborateure
Schutz vor Wettbewerbern durch staatliche Privilegien
Anwendung struktureller Gewalt, und zwar in der Maximalform einer Landenteignung
Einrichtung von arbeitsfreien Pfründen für Kollaborateure.
Zerstörung unabhängiger Existenzen
Damit Schaffung einer Klasse von Entwurzelten
Auffangen eines Teils der Entwurzelten in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen
Ein solches auf Ausplünderung basierendes System generiert für vorübergehende Zeit gewaltig expandierende Geschäfte und Profite, so bestritt die EIC zeitweise rund die Hälfte des gesamten Welthandels. Doch fehlt die nachhaltige Stabilität. Nimmt der Druck auf eine ausgeplünderte, im „Agentic State“ gehaltene mittelständische und proletarische Bevölkerung existenzbedrohende Ausmaße an, kommt Widerstand auf und kann nur noch mit weiter wachsendem Machtgebrauch niedergehalten werden. So unterhielt die East India Company auf dem Höhepunkt ihres Einflusses eine Truppe von der doppelten Stärke der gesamten britischen Armee. Die Kompanie musste ihre Aktivitäten 1874 nach angewachsenem öffentlichen Druck einstellen – gegen den auch umfangreiche Lobbytätigkeit nichts mehr ausrichten konnte. Doch wurden die tatsächlichen Beziehungsgeflechte zwischen Staat und privaten Kapitalisten dadurch keineswegs transparenter. – Die Spuren der Aktivitäten des größten Konzerns der Welt sind weitgehend verwischt. Erinnerungen an die historische Schande, die zur Warnung wichtig wären, sind offenkundig politisch unerwünscht, denn in ganz London existiert kein öffentliches Museum, kein Monument. Stattdessen wurde 1971 eine neue Firma unter dem alten und nun markenrechtlich geschützten Namen gegründet, welche den alten Glanz des Imperiums mit seinem noblen Warenangebot wiederbelebt, während die ausbeuterischen Geschäftspraktiken einschliesslich Opium- und Sklavenhandel mit ein paar entschuldigenden Sätzen abgetan werden. Die heutige Gesellschaft mit dem Namen The East India Company® betont glaubhaft ihr soziales Engagement, was einschränkungslos anzuerkennen wäre, gäbe es da nicht das offenkundige Bemühen, zusammen mit dem Firmennamen auch dem historischen Konzern nachträglich ein positives Image zu verschaffen.
Auch wenn Indien als Kronkolonie des britischen Empire bezeichnet wurde, war es im eigentlichen Sinne nie auch nur im Ansatz eine Kolonie, sondern ein zur exklusiven Ausplünderung freigegebenes Vasallenterritorium. Eine erwähnenswerte britische Siedlungstätigkeit, also eine Kolonisierung nach römischem Muster, hat auf dem indischen Subkontinent praktisch nicht stattgefunden.
Das historische Exempel Indiens liefert drei Einsichten. Erstens zeigt der Imperialismus des Kolonialzeitalters alle Merkmale des Kapitalismus – dessen global expansive Seite er als konsequente Folge seines Macht- und Ausbreitungstrebens repräsentiert.
Die zweite Einsicht besteht darin, dass Imperialismus nicht mit Kolonialismus gleichzusetzen ist, denn letzterer umfasste als übergeordnete und facettenreiche Erscheinung einer ganzen Epoche auch Kolonisierung, also erschließende und aufbauende Siedlungstätigkeit. Im Gegensatz zu den größtenteils destruktiven geschäftlichen Aktivitäten der Kapitalisten hat die Kolonisierung durch bürgerliche Auswanderer die europäische Zivilisation in andere Erdteile getragen und dabei, namentlich auf dem gesamten amerikanischen Doppelkontinent sowie im australisch-pazifischen Raum, bedeutende zivilisierte Nationen mit großer Integrationskraft hervorgebracht. Diese klare Unterscheidung spiegelte sich auch in der Gliederung des Britischen Weltreichs wider. Danach unterstanden die wenigen Siedlerkolonien Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika direkt der britischen Regierung. Dagegen unterstanden die zur Ausplünderung durch privilegierte Handelsgesellschaften freigegebenen sogenannten Crown Colonies dem Königshaus, und zwar in einem als „Crown“ bezeichneten Verbund von Exponenten des Handels- und Finanzestablishments. Sitz der Crown war die City of London, ein besonderer Bezirk mit bis heute eigenen staatlichen Hoheitsrechten.
Das Beispiel Indiens unter der EIC beleuchtet drittens ein Kennzeichen des Kapitalismus/ Imperialismus, welches sich wie ein roter Faden durch seine Geschichte zieht - die destruktive Haltung gegenüber allen unabhängigen Menschen, Gruppen und - im internationalen Kontext – auch Staaten. Insbesondere gerät jede noch so einfache Form freien, selbständigen Wirtschaftens ins Visier, wird an seiner Entfaltung gehindert oder geradewegs zerstört.
Diese auf Unterdrückung und Bevormundung zielende Gesinnung mussten die Kapitalisten später während ihres gewaltigen Aufstiegs in der freiheitlichen Gesellschaft der USA, so gut wie möglich tarnen. Doch die mit ihrem wirtschaftlichen Erfolg gewaltig angestiegene Macht und deren (im Widerspruch zu freiheitlichen Lippenbekenntnissen stehende - siehe Kapitel A 31.) freiheitsfeindliche Entfaltung lassen sich immer schwerer verbergen.